Das Märchen vom Riesen NIEGENUG und seinem Bruder WOHLGETAN
von Claudia Blank
Es waren einmal zwei Riesenbrüder, die lebten in einem dichten dunklen Wald, jeder am anderen Ende. Der eine hieß Niegenug, der andere Wohlgetan. Beide hätten unterschiedlicher nicht sein können und so trafen sie auch nur selten aufeinander.
Während Wohlgetan sanften Gemüts war, sich zusammen mit den Tieren im weichen Moos zum Schlafen legte und sich von Beeren, Kräutern, Blättern und Wurzeln ernährte, lebte Niegenug in einer riesigen Höhle in einem Berg oberhalb des Waldes und kam nur herunter, um Holz aus dessen Innern zu holen. Er hatte nämlich einen Riesenofen in seiner Höhle, den er mit Holz befeuerte, denn er wollte es stets warm und gemütlich haben. Er liebte den Räucherduft, der das erlegte Wild nach Räucherschinken schmecken ließ. Besonders groß aber war sein Hunger auf Holz! In seiner unstillbaren Gier riss er ganze Bäume aus und zermalte sie zwischen seinen Riesenzähnen zu Hackschnitzeln. Auf einer offenen Feuerstelle köchelte zudem stets ein Riesentopf mit Brei aus Sägespänen. Und da er jeden Tag Unmengen von Stämmen verfeuerte, verbaute und verschlang, wurde der Wald unterhalb des Berges bald immer lichter und ausgedünnter. Mit seinen tonnenschweren Riesenfüßen hatte er zudem überall lange Gassen getrampelt; dort zog er die Bäume in dicken Bündeln wie Streichhölzer hinter sich her.
Dieses rücksichtslose Wüten ärgerte seinen Bruder Wohlgetan, der so gerne Blumen pflückte und auf dem weichen Waldboden lag, wo er verträumt den kleinen Waldbewohnern zusah, die sich auf der Erde, an Halmen, Blüten, Blättern und in der Luft tummelten. Durch das Getrampel von Niegenug war der lockere und duftende Waldboden nun an vielen Stellen des Waldes zertreten und aufgerissen und unzählige kleine Bäumchen und Büsche umgeknickt. Dann beugte sich der sanfte Riese seufzend hinab und versucht diese wieder aufzurichten. Besonders traurig machte es ihn, wenn er zertretende Lurche, Frösche und andere Lebewesen fand, zerstörte Nester und Käfer, Siebenschläfer und Fledermäuse ihrer alten Bäume beraubt wurden. Dann fragte er sich zunehmend verärgert: "Ist der Wald nicht für alle da? Für die Tiere, die Pflanzen, die Menschen und zu unser aller Freude? Wie kommt Niegenug dazu, so viel Zerstörung anzurichten?" Viele seiner alten Baumfreunde, die er mit seinen Riesenhänden gerade so umfassen konnte, waren inzwischen verschwunden und auch die kleinen Pfade und Wege, die er wegen seiner Riesenfüße stets zu gehen vermieden hatte.
Damit nicht genug. Eines Tages erfuhr er, dass Niegenug anscheinend Baumlieblinge hatte, die er hegte und pflegte, während er um diese herum alles mit Stumpf und Stil ausriss. Die Vögel des Waldes berichteten, dass es dem rabiaten Bruder nicht schnell genug gehen würde mit dem Wachsen seiner Lieblingsbäume. Deshalb würde er alle kleinen Pflänzchen und Bäumchen um diese herum herausreißen und beim Wüten schreien: „Sie stehen zu dicht! Es braucht mehr Licht!“ Schneller, höher und gerader sollten diese Auserwählten dadurch wachsen, so erzählten sie es dem friedlichen Riesen. Auch drang Niegenug immer tiefer in die Wälder vor und holte sich nun auch aus Waldgebieten, die bisher unberührt waren und besonders geschützte Tiere und Pflanzen beherbergten, die dicksten Stämme. Da wo Menschenkinder auf den Wegen bleiben und keine Blumen pflücken sollten, zertrampelte er alles, was ihm vor die Füße kam.
Als sich die Tiere in ihrer Not um den gutmütigen Wohlgetan versammelten und ihn um Hilfe baten, reichte es ihm endgültig. Er beschloss, seinen Bruder aufzusuchen, um ihn zur Rede zu stellen. Als er aber zu dessen Berg kam, traute er seinen Augen nicht: So weit er sehen konnte, lagen dort Stämme über Stämme, sodass nicht einmal mehr der Eingang zur Höhle zu sehen war. Er musste sich die Hand vor Augen und Nase halten, als er sich in die Behausung des Bruders vortastete. Im dichten Qualm hingen unzählige tote Tiere wie in einer Räucherkammer, im riesigen Ofen verbrannte der halbe Wald und die Luft war beißend und stickig. „Niegenug zeig dich! Ich hab mit dir zu reden!“ rief der sonst so sanfte Riese außer sich vor Wut, aber in der Höhle suchte er ihn vergebens. Als er wieder hinauslief, rang er nach Luft, denn nun sah er das ganz Ausmaß der Zerstörung von oben: sein ehemals dichter schöner grüner Wald, glich einer Kraterlandschaft mit dürren und sonnenverbrannten Bäumchen, zertrampelten Gassen und unzähligen kahlgeschlagenen Stellen. Nichts erinnerte mehr an den einst schattigen, feuchtkühlen, dichten Wald mit verschlungenen Pfaden, die sich entlang von üppiger blühender Vegetation schlängelten.
Der sonst so friedfertige Riese war wütend, verzweifelt und traurig zugleich, als er seinen Bruder endlich fand. Der kam ihm aus dem Wald entgegen und zog hunderte dicke Stämme hinter sich her zu seiner Behausung. Aufgebracht versperrte Wohlgetan seinem Bruder den Weg und rief: „Kommst du endlich heim von deinen Raubzügen, du gieriger nimmersatter Räuber! Was fällt dir ein, den Wald derart auszuplündern?! Reicht es dir nicht, nur das zu holen, was du zum Leben brauchst? Willst Du jetzt alle Bäume ausreißen bis kein Wald mehr steht, alle Böden zertrampelt sind und die Lebewesen darin kein Zuhause mehr haben?“
Doch der ungleiche Bruder bot ihm die Stirn, ballte drohend die Fäuste und schrie: „Aus dem Weg! Das ist mein Wald und mein Holz! Ich hole mir soviel ich will, was ich will und noch viel mehr! Eine hölzerne Festung werde ich mir bauen auf meinen Berg - so hoch, dass ich mit meinen Händen in den Himmel reichen und die Sterne herabholen kann. Was geht dich das alles an?“ Einen Augenblick standen die beiden Riesen Stirn an Stirn, Auge in Auge, beide die Fäuste geballt und hielten die Luft an. Doch dann dachte Wohlgetan an all die Tiere und Pflanzen, die unter ihrem Kampf zertreten und getötet würden, blies die Luft langsam aus und sagte schließlich: „Du tust Unrecht Bruder! Der Wald gehört uns allen, Tier und Mensch sollen sich darin wohlfühlen und jeder nur soviel nehmen, dass er und die Natur mit allen, die darin leben, erhalten bleibt. Der Wald ist doch unser Freund; er gibt uns allen saubere Luft, reines Wasser und schützt das Klima. Du hast kein Recht, ihn nur für deine Zwecke zu zerstören!“
„Völliger Unsinn!“ schrie Niegenug: „Ihr alle könnt froh und dankbar sein für das was ich tue. Nur wenn ich den Wald nutze und die Festung mit seinen Stämmen hoch in den Himmel baue, kann ich mir die Sterne holen, die Gold wert sind. Der Wald hat uns zu dienen - nur dann ist er auch ein guter Wald! Alte Bäume braucht niemand mehr; sie sind alt und unnütz. Deshalb reiße ich sie alle aus und pflanze neue junge Bäumchen, hole sie mir aus fremden Ländern …. was weißt du schon von alldem, du Träumer! Spiel du nur weiter mit Kröten und Schmetterlingen und geh mir aus dem Weg! Ich muss den Wald umbauen, Häuser, Städte, Aussichtstürme, meine Festung und Bäume in andere Länder verkaufen …. ich reiße aus was stört, damit neue wachsen können …. ich schaffe ihnen Licht, dann wachsen sie schneller, höher, gerader … bald bin ich reich, reich, reich ...“
Wohlgetan konnte nur den Kopf schütteln über soviel Unverstand und Gier und sah Niegenug noch lange nach, wie dieser auf aufgerissenen Wegen seine Fracht in Richtung Berg schleifte und dabei wie im Wahn seine Sätze wiederholte bis er schließlich in der Ferne verschwand.
Bald aber war der Wald so geschwächt und ausgedünnt, dass er Stürmen, Hitze und Trockenheit nicht mehr trotzen konnte. Auch seine Bewohner litten inzwischen, hatten großen Mangel oder starben; viele hatten keine Wohnhöhle und keinen Rückzugsort mehr. Der gierige Riese hatte nicht nur den halben Wald verheizt, platt getrampelt und aufgefressen – jetzt war er Tag und Nacht damit beschäftigt, den restlichen Wald für seine hölzerne Festung hoch oben auf seinem Berg zu verbauen. Als er diese schließlich so hoch errichtet hatte, dass er mit den Händen bis über die Wolken reichen konnte, stand er Nacht für Nacht ganz oben auf einem hölzernen Turm, griffelte nach den Sternen und rief trunken vor Gier „Himmel lass mir Sterne regnen, sie sollen Gold in meinen Händen werden und ich so reich wie kein anderer. Holz und Cluster, lass regnen Zaster!" Tatsächlich schaffte er es, einen ersten Stern herunterzureißen. Wohlgetan und die Waldbewohner erzitterten, als sie Niegenugs donnernde Stimme über sich hörten: „Nun bin ich reich! Nun bin ich Gott gleich! Ich bestimme wer wachsen darf und wer nicht, was gut ist und was nicht, von nun an will ich 'Gottgleich' heißen."
Da wurde es dem Schöpfer allen Lebens zu viel und er ließ die Erde unter dem Berg des Riesen erbeben; nur soviel, dass es ausreichte, um die Festung des hochmütigen Riesens ins Taumeln zu bringen und mit ihm Niegenug, der ganz oben auf dem höchsten Turm stand, den Oberkörper halb in den Wolken verborgen, beim Versuch noch mehr Sterne vom Himmel zu holen. Nun begann er zu wackeln, versuchte sich vergeblich in den Wolken festzuhalten, verlor schließlich das Gleichgewicht und stürzte ebenso tief, wie er hoch hinaus wollte. Er brach sich dabei Arme und Beine, aber gottlob nicht das Genick.
Von nun an musste Niegenug auf einer Waldlichtung sitzend oder liegend sein Leben zubringen und war auf die Hilfe von Wohlgetan und den Waldbewohnern angewiesen, die nun das Sagen hatten und dem Riesen bald das unmäßige Holzfressen abgewöhnten. So hatte er nichts anderes zu tun, als darauf zu warten, dass ihm Beeren, Früchte und Kräuter des Waldes vorgesetzt wurden und freute sich, wenn sich ein Käferchen zu ihm verirrte, die Kröte vorbei kam oder ein Schmetterling sich auf seine Nasenspitze setzte. Er beobachtete das Wachsen und Auferstehen der Natur und den Wechsel der Jahreszeiten und lernte zu staunen, wieviel Schönes und Wunderbares doch die Natur hervorbrachte, wenn man sie nur ließ. Er sah, wie sich der kranke Wald immer weiter erholte und seine Wunden heilten - in harmonischer Gemeinschaft mit den Pflanzen und Lebewesen in ihm. Zum ersten Mal empfand er Dankbarkeit und Freude. Niegenug lernte zu schauen und zu stauen und sein Bruder Wohlgetan – der ihn nun gerne und oft besuchte – wurde ihm darin der beste Lehrmeister.
So lagen sie beide oft voller Eintracht träumend im weichen Moos inmitten von duftenden Kräutern und Waldblumen, sahen in das Blau des Himmels und freuten sich an Bienen und Schmetterlingen. Aus Niegenug war ein Habgenug geworden, und alle lebten fortan glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.
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Glossar:
Riese Niegenug - steht für eine unmäßige gewinnorientierte hochindustrialisierte Holzindustrie
Riese Wohlgetan - steht für einen sanften und schonenden Umgang mit dem Wald und für die Bewahrung der Gemeinwohlinteressen (Bürgerinteressen, Natur und Umwelt, Sozialfunktionen)
Riesenofen - steht für die Holzverbrennung zur Energiegewinnung als Biomasse/übermäßige energetische Nutzung
Riesenfüße - stehen für Harvester/tonnenschwere Erntemaschinen, Bodenverdichtung und Rückegassen
Riesenfestung - steht für übermäßige Holznutzung zur stofflichen Verbauung
Sterne - stehen für Profitinteressen/Wohlstand/Gewinne
Sturz des Riesen - steht für Absturz der Forstwirtschaft in den Augen der Gesellschaft/Öffentlichkeit
Lieblingsbäume - stehen für schnellwachsende Brotbäume für die Holzindustrie
Ausreißen und Freistellen um diese herum - steht für Femel- und Schirmschläge und Auslichten des Waldes, um schnelleres, geraderes, astfreies Wachstum von Z-Bäumen zu erreichen
Räucherdunst - steht für Klima, CO2, vermeintliche klimafreundliche Waldnutzung durch Bewirtschaftung
Alte Bäume auffressen - alte Bäume bringen angeblich nicht mehr soviel bei der Umwandlung von CO2 in Sauerstoff, nach und nach werden diese gefällt, um dafür junge nachzupflanzen
Unberührte Waldgebiete - besondere Schutzgebiete
Riese Niegenug wird nach Sturz zur Unfähigkeit verdammt - steht für die derzeitigen Zusammenbrüche von Wirtschaftsforsten durch Kalamitäten, Dürre u.a. Der "Macher" wird zum Erliegen gebracht und es bleibt nichts anderes, als zuzusehen, wie sich die Natur von sich aus erholt, wenn man sie nur lässt.
Der Wald gehört uns allen - steht für Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG, Urt. v. 31.05.1990, NVwZ 1991, 53)
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